
Bereits während der Vorbereitungsphase im Winter mussten wir, die Teilnehmer des Zeitzeugenprojekts 2013/2014, feststellen, was „organisierte Spontanität“ bedeutet: Statt Reise nach Simferopol/Krim hieß es plötzlich: Reise nach Kamianets-Podilskyi/Westukraine, statt Wohnen bei Gastfamilien ging es ins Hotel, statt acht Schülern und Schülerinnen fuhren sechs mit, statt nach Ostern ging die Reise erst nach Pfingsten los. Aber schließlich, nach gründlicher Abwägung der politischen Lage, brachen wir doch endlich auf, um Zeitzeuginnen in der Westukraine in Kamianets-Podolskij zu besuchen – und hatten am Hauptbahnhof Osnabrück mit den Folgen von Sturmtief „Ela“ das nächste Hindernis zu überwinden:
Denn wegen der starken Unwetter am Vortag hatten wir große Probleme, am 10. Juni 2014 rechtzeitig am Flughafen Dortmund zu sein, da die Zugverbindungen in Nordrhein-Westfalen zusammengebrochen waren. Dank der „spontanen Organisation“ unserer Familien kamen wir mit Autos aber früh genug am Flughafen an, um unseren Flug nach Lviv zu erreichen. Nach unserer Ankunft machten wir Bekanntschaft mit den ukrainischen Kraterlandschaften (auch Straßen genannt). Da unser Busfahrer, trotz gekonnter Fahrmanöver, einige Schlaglöcher nur im Schritttempo durchfahren konnte, streckte sich unsere Fahrt von vier auf sechs Stunden. Unterwegs bekamen wir erste Eindrücke von dem ukrainischen Leben. Wir begutachteten eine heilige Quelle, nahmen Kontakt zu süßen freilaufenden Hunden auf und staunten über Kühe, die angepflockt und seelenruhig am Rand der Schnellstraße/Autobahn grasten.
Durchgeschüttelt von der Minibusfahrt und müde von der langen Anreise, wurden wir trotz der späten Stunde von Irina Avilova, einer der Projektlehrerinnen von der Krim, erwartet. Auch drei Generationen der Familie des im Winter verstorbenen Zeitzeugen Alexander Kolosovskij, der schon mehrmals in Osnabrück war, begrüßten uns. Alexanders Familie begleitete uns auch die nächsten Tage liebevoll vor Ort.
Am ersten Tag besichtigten wir die Festung vor Kamianets- Podolskij. Die Führung in russischer Sprache bot dank der grandiosen Übersetzung von Aljona (Tochter von Irina und von der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste eingesetzte Freiwillige der Gedenkstätte Augustaschacht) viele Informationen. Nach einem stärkenden Essen im Hotel besuchten wir zwei eindrucksvolle Denkmäler. Das eine erinnert an ein Massaker an 23 600 jüdischen Menschen im 2. Weltkrieg, ein weiteres erinnert an alle Opfer, die der 2. Weltkrieg in der gesamten Stadt forderte. Anschließend blieb Zeit für die Besichtigung einer kleinen, niedlichen, wunderschönen orthodoxen Holzkirche. Auf dem Rückweg zum Hotel machten wir zudem Bekanntschaft mit einer sehr wackeligen Hängebrücke, in der Planken lose waren bzw. ganz fehlten. Die Brücke stellte für jeden auf eine gewisse Art und Weise ein persönliches Abenteuer dar.
Am zweiten Tag machten wir uns gemeinsam mit Oksana, der Tochter Alexanders, auf die Suche nach den Lebensstationen von Alexander. Wir besuchten sein Grab auf einem sehr idyllischen Friedhof; er war mit hohen Gräsern bewachsen und wirkte vollkommen unberührt. Während Irina und Oksana den neuen Besitzer des Geburtshauses vom Alexander im Dorf suchten, freundeten wir uns mit den freilaufenden Tieren im Dorf an, besonders mit den Hunden. In einem kleinen Dorfladen kauften wir uns ukrainische Leckereien, wie z. B. ein gardinenringförmiges Gebäck, von dem wir uns die nächsten Tage ernährten. Der Besitzer des Geburtshauses von Alexander lud uns ein, das Haus zu besichtigen, was besonders für Oksana sehr emotional war. In Alexanders Wohnhaus lebt heute sein Sohn; die Geschwister erzählten uns viel über ihren verstorbenen Vater.
Der Tag klang bei Oksana aus, wo ihre beiden Töchter uns mit überwältigender Gastfreundschaft und Bergen von leckerem ukrainischen Essen empfingen. Wir knüpften Kontakt mit Vika, der sechzehnjährigen Enkelin von Alexander. Dank ihrer hervorragenden Englischkenntnisse waren wir mal nicht auf Übersetzung abgewiesen! Abends im Hotel warteten neue Herausforderungen. Einige Zeitzeuginnen, die wir am Folgetag besuchen wollten, hatten unsere Besuchsankündigungen im Vorfeld nicht erhalten. Deshalb mussten wir die Fahrten für die nächsten drei Tage umstrukturieren. Aufgrund von katastrophalen Handynetzen oder nicht vorhanden Telefonanschlüssen gestaltete sich dieses sehr schwierig. Zu einer Zeitzeugin schickten wir sogar einen Kurier.
Trotzdem machten wir uns am folgenden Tag auf, um gemeinsam Frau Tatjana Semjonowna Powar zu besuchen, die zugesagt hatte, uns als ganze Gruppe zu empfangen. Vor ihrem kleinen, liebevoll eingerichteten und mit Teppichen geschmückten Haus - mit Storchennest! - erwartete sie uns ganz aufgeregt. Frau Powar, eine kleine 88 Jahre alte Frau, begann schon an der Haustür, ihre Geschichte zu erzählen, sodass wir direkt das lange, aufwühlende und spannende Interview mit ihr begannen. Sie erzählte uns von ihrer Verschleppung als 15 Jahre altes Mädchen und dem Hunger, der Angst und dem Heimweh in Osnabrück. Nach dem Interview zeigte sie uns ihr Dorf und ihren Blumengarten, auf den sie sehr stolz ist. Besonders wir Schüler waren tief beeindruckt von unserem ersten Zeitzeugeninterview.
Am Samstag teilten wir uns in zwei Gruppen auf: Eine Gruppe fuhr zu der 87-jährigen Olga Juhimowna Ischtschuk, die in der Lederfabrik von Rudolf Vordenberge in Osnabrück gearbeitet hatte. Die Gruppe wurde vom Bürgermeister des Dorfes empfangen, der nach dem langen und bewegenden Interview noch auf einer Dorfführung bestand. Die andere Gruppe machte sich auf den Weg zu der 88-jährigen Marija Antonowna Pantschenko, die in der Fabrik „Kromschröder“ gearbeitet hatte. Gleich zu Beginn der Fahrt stellte sich heraus, dass das Programm „geplante Spontanität“ noch nicht zu Ende war - die Fahrt sollte anstelle der geplanten zwei bis drei Stunden drei, vier, fünf Stunden dauern – schließlich wurden es mit einer Pause, in der wir unter anderem Zahnpasta und Zahnbürsten für die Nacht kauften, sechs Stunden, in denen wir die Vorteile der Naturtoilette gegenüber den sonst auf dem Land vorzufindenden Plumpsklos entdeckten.
Bereits beim Aussteigen wurden wir vom Sohn begrüßt, der uns (und Teile des Interviews) filmte, sodass wir uns ausnahmsweise auf der anderen Seite der Kamera befanden. Er ist professioneller Hochzeitsfilmer. In der Tür wartete Marija Antonowna auf uns, und bevor wir nach dem sehr leckeren Essen mit dem Interview anfangen konnten, mussten wir sie mehrmals bitten, mit ihrem Erzählfluss zu warten, bis wir die Kamera aufgebaut hatten. Aufgrund der langen Anreise blieb leider wenig Zeit für unsere zahllosen Nachfragen. Ihre gesundheitliche Verfassung ermöglicht Marija Antonowna nicht mehr eine Reise nach Osnabrück, aber wir sahen eine große Zahl Fotos aus ihrer Zeit in Osnabrück, die uns nach weiterer Analyse hoffentlich mehr über diese Zeit verraten werden.
Da wir am Abend nicht noch mal sechs Stunden mit dem Bus fahren wollten, verbrachten wir die Nacht in dem etwa drei Stunden entfernten Winniza, einer größeren Stadt mit ca. 300 000 Einwohnern, in einem Hotel, das von der Qualität zwar bei weitem nicht an unser Hotel in Kamianets-Podolskyi herankam, für eine Nacht aber absolut erträglich war – wenn man bedachte, dass wir, außer durch die vorher gekauften Zahnbürsten und Zahnpasta, nicht auf eine Übernachtung vorbereitet gewesen waren. Ein einmaliges Abenteuer bot das spartanische Hotel aus der sowjetischen Zeit allemal – und solange wir WLAN hatten, kamen wir mit allem klar.
Am nächsten Tag fuhren wir direkt nach Khmelnytskyi. Unterwegs trafen wir auf die andere Gruppe, die uns freundlicherweise dringend benötigte Gegenstände brachte – die wir aber zum Teil vor Begeisterung über unser Wiedersehen vergaßen, sodass der Busfahrer der anderen Gruppe sie uns nachbringen musste. Unsere Zeitzeuginnen, Marija Markonowna Nalisnikowskaja und Antonina Wasiljewna Sidoruk, befanden sich glücklicherweise nicht allzu weit entfernt voneinander. Wir besuchten Antonina Wasiljewna allerdings nicht in ihrem Dorf, welches Aljona einige Tage zuvor aufgesucht hatte und das aus etwa 12 Häusern bestand, von denen die meisten verlassen waren, sondern in der Wohnung ihrer Tochter, die sich im neunten Stock befand. Die Treppe war zwar anstrengender als der Aufzug, aber um einiges vertrauenswürdiger, weshalb wir die körperlichen Strapazen auf uns nahmen.
Auch hier begannen wir gleich mit dem Interview, in dem uns Antonina Wasiljewna bereitwillig von ihrem Leben erzählte. Wie bei allen Zeitzeuginnen fiel uns auch bei ihr auf, dass sie erzählte, sie selbst sei nie brutal behandelt worden. Ob das der Wahrheit entspricht – schließlich waren alle Zeitzeuginnen noch minderjährig gewesen, als sie nach Deutschland kamen –, ob die Erlebnisse verdrängt wurden oder ob uns die Zeitzeuginnen nicht beleidigen wollten, haben wir bisher nicht herausgefunden, aber möglicherweise klärt sich diese Frage, wenn uns die drei noch reisefähigen Zeitzeuginnen im September in Osnabrück besuchen.
Vor dem Interview konnten wir uns beim Mittagessen teilweise auf Deutsch mit dem Sohn und teilweise auf Englisch mit der Enkelin und ihrem Mann unterhalten. Das Essen war mal wieder sehr üppig und unglaublich lecker, der Wodka ausnahmsweise nicht selbstgebrannt. Nach dem Interview kehrten wir nach 30-stündiger Abwesenheit zurück in unser Hotel in Kamianets-Podolskyi, das wir zeitgleich mit der anderen Gruppe erreichten. Wir hatten einander viel zu erzählen. Der Großteil der Schüler traf sich daher in einem der Hotelzimmer, bevor wir uns – wieder einmal viel zu spät – ins Bett begaben.
Unseren letzten Tag in der Ukraine verbrachten wir wieder als Touristen – diesmal in Czernowitz, der Geburtsstadt von Paul Celan, der einigen möglicherweise als der Autor der „Todesfuge“ bekannt ist, wo wir eine private Führung durch ein Museum über die örtliche jüdische Bevölkerung vor dem Zweiten Weltkrieg erhielten (und welches sich als sehr klein entpuppte; die beiden miteinander verbundenen Räume waren nicht größer als ein Klassenzimmer). Anschließend hatten wir endlich Zeit, erst in der Innenstadt und anschließend auf einem ukrainischen Markt zu bummeln, wo wir Klamotten und – natürlich – Essen kauften und unsere Shopping-Bedürfnisse, die bei der knapp bemessenen Freizeit nicht beachtet wurden, endlich befriedigen konnten.
Zudem besuchten wir die wegen ihrer verdrehten Türme im Volksmund als „betrunkene Kirche“ bekannte orthodoxe Kirche, was erneut Kopftücher für den weiblichen Teil unserer Gruppe und im Innenraum der Kirche – leider – Fotoverbot für die gesamte Gruppe bedeutete. Die Kirche war mit zahlreichen Wandbemalungen üppig, für unsere Verhältnisse geradezu kitischig geschmückt. Da an diesem Tag Deutschland spielte, waren wir pünktlich um halb 8 Uhr Ortszeit zurück in unserem Hotel, wo wir während des Abendessens feststellen mussten, dass das Spiel eine Stunde vorverlegt worden war, sodass wir während des Abendessens die zweite Halbzeit guckten, anstatt später – wie geplant – zum Public Viewing einige Meter vom Hotel entfernt zu gehen. Stattdessen begaben wir uns nach einem kurzen Fotoshooting mit einer unechten Kutsche auf einen Spaziergang zu einer weiteren Hängebrücke, die allerdings nicht halb so interessant wie die uns bereits bekannten war. Im Halbdunkel durch die Schlucht und über eine Steintreppe nach oben zu dem „Schwanensee“ zu laufen, stellte sich als weitaus spannender heraus. Obwohl wir am nächsten Morgen um halb 9 abfahren wollten, blieben die Schüler natürlich wieder zu lange auf.
Der letzte Tag brach an. Nach einem etwas gehetzten Frühstück verabschiedeten wir uns schweren Herzens vom Hotel. Auf der Rückfahrt machten wir einen kurzen Zwischenstopp bei einer Sauna, die uns unser Busfahrer zeigen wollte, bei der heiligen Quelle, um den streunenden Hund wieder zu sehen – der tatsächlich noch da war und beinahe mit nach Deutschland gekommen wäre – und zwei Friedhöfen in der Nähe von Lviv, auf denen wir gehofft hatten, den Urgroßvater einer der Projektteilnehmerinnen zu finden – allerdings waren die Gräber der wenigen deutschen Soldaten, die dort begraben waren, bloß mit einem Holzkreuz gekennzeichnet, sodass unsere Suche ohne endgültige Antwort beendet werden musste.
Am Flughafen verabschiedeten wir uns auch von Aljona und Irina Avilova, die etwas später zu einer fast 30-stündigen Zugreise auf die Krim aufbrachen. Der Flug nach Deutschland verlief problemlos, am Flughafen Dortmund wurden wir erfreulicherweise von Familienmitgliedern erwartet, die uns schnell und bequem nach Osnabrück brachten, wo wir uns nach einem letzten Gruppenfoto von einander trennten. Zusammenfassend könne wir sagen, dass alle Teilnehmer viel von dieser Reise mitgenommen haben, die zwar nicht ganz so wie ursprünglich geplant verlaufen war, aber durch herzliche Zeitzeuginnen, streunende Hunde, leckeres Essen und vieles mehr zu einem Erlebnis wurde.