Vor 75 Jahren begann der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die UdSSR, standen sich deutsche und sowjetische Soldaten in den Schützengräben feindlich gegenüber. Belarus, damals Teil der UdSSR, ist das Land mit den - prozentual gesehen - höchsten Bevölkerungsverlusten; jeder Vierte ist dem „Großen Vaterländischen Krieg“, wie er dort genannt wird, zum Opfer gefallen. Das damals erfahrene Leid zeichnet das Land bis heute.
Im Mai 2016 macht sich eine 17-köpfige Gruppe aus Osnabrück auf die Reise in die 1500 Kilometer entfernte Hauptstadt Minsk, um das Schicksal und die Lebensgeschichte belarussischer Zwangsarbeiter, die im Krieg nach Osnabrück verschleppt und deportiert wurden, zu dokumentieren und aufzuarbeiten. Neben zehn Schülern und Schülerinnen der Jahrgangsstufen 10 und 11, Frau Brebaum-Ersen und Frau Malcherek fahren auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Gedenkstätten Augustaschacht und Gestapokeller mit.
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Fragt man einen Deutschen, wie er sich Minsk vorstellt, so gibt es viele unterschiedliche Antworten; das echte Minsk aber ist nur schwer zu beschreiben. Als „Westler“ fällt einem als Erstes die Sauberkeit der Millionen-Metropole auf. Kein Abfall in der Stadt: keine Dose, kein Papier, keine Zigarette. Keine Obdachlosen unter Brücken, keine Bettler in den Einkaufsstraßen. Gemessen an ihrer Größe ist die Stadt erstaunlich ruhig.
Nach knapp zwei Stunden Flug von Hannover nach Minsk werden wir von unseren Austauschschülern freudig in Empfang genommen. Nach einer Fahrt durch weite Wälder und Wiesen erreicht man den Wohndistrikt; eine Ansammlung von Dutzenden von Plattenbauten, alle zehn bis zwölf Stockwerke hoch. Mein Gastschüler spricht weder Englisch noch Deutsch, ein Gefühl der Hilflosigkeit steigt auf. Wir kommen an einem Spielplatz vorbei, auf dem eine Gruppe Neunjähriger mit nachgebauten Kalaschnikows Krieg spielt. Es erfasst mich wie eine Wucht, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen: Das hier ist nicht Europa, das hier ist Ostblock. Hier gelten andere Regeln?!
Die weiten Innenhöfe zwischen den Plattenbauten, groß wie mehrere Fußballplätze, durchzogen von Bäumen und Straßen, wirken mit einem Mal befremdlich und bedrückend. Mit dem Fahrstuhl im Gebäudekomplex 16, Block C, erreichen wir den Flur des fünften Stockwerkes, das stark an Rohbau erinnert. Eine Tür mit besorgniserregend kleinem Sicherheitsschloss wird geöffnet und gibt den Blick auf eine Art Abstellkammer frei, durch die man die eigentliche Wohnung erreicht.
Die Mutter, Larissa, steht bereits im Flur, lächelt und sagt auf Russisch etwas, das nach Begrüßung klingt. Genau kann ich es nicht sagen, denn eine gemeinsame Sprache teile ich auch mit ihr nicht. Die Wohnung ist eingerichtet, wie es ein deutscher Rentner lieben würde: Rosenmuster auf Teetassen, Teppiche und Porzellan, Kerzenhalter und Holzverkleidungen. Sie ist überschaubar: eine etwa fünf Quadratmeter große Küche, ein kleines Wohnzimmer, ein Badezimmerchen und zwei Schlafzimmer. Natürlich erwartet uns die Mutter zum Essen. Schon hier skizziert sich die unglaubliche, überschwängliche Gastfreundlichkeit einer Kultur, die das Wort „satt“ nicht kennt. Bei sieben Mahlzeiten am Tag hat man natürlich auch um 20 Uhr wieder Hunger, man isst Kartoffeln (was sonst?) und trinkt selbstverständlich Tee. Ich fühle Panik aufsteigen, als ich begreife, dass ich 1500 Kilometer von Deutschland entfernt in einer Wohnung feststecke, in der keiner Deutsch spricht. Kommunikationssprache: Höflich lächeln, freundlich nicken. Freundlichkeit ist in allen Sprachen verständlich - „ich bin satt“ leider nicht.
Am nächsten Morgen sieht die Welt wieder anders aus: Viele der anderen Belarussen sprechen Englisch. Hat man sich erst einmal den fünf Minuten langen Weg durch das Labyrinth der Plattenbauten zur Schule gebahnt, fallen einem am Schultor Soldaten auf, die ihre Kinder zur Schule begleiten. In dem Stadtviertel, in dem die Schule liegt, gibt es eine große Kaserne. Deshalb fällt auch der Trupp marschierender Soldaten auf der gegenüberliegenden Straßenseite außer uns niemandem besonders auf. Der Hitler-Gruß eines ungefähr neunjährigen Mädchens im Vorübergehen sorgt für weitere Irritation. Schnell wird mir klar: Nicht alle hier freuen sich über Besuch aus Deutschland. Meine Stimmung hebt sich aber wieder, als andere Mädchen mit uns Selfies machen wollen.
Nach einem Workshop steht das Mittagessen auf dem Programm, das sich grundsätzlich aus Kartoffeln und Fleisch zusammensetzt, nur beides in jeweils unterschiedlicher Form. Auch an das Frühstück muss ich mich erst einmal gewöhnen. Buchweizenreis ist so lecker, wie es klingt, hat aber den Vorteil, dass ich es ohne Kauen schlucken kann. Dazu gibt es bei mir zuhause Frikadelle, Schnitzel oder auch gerne mal Torte zum Frühstück. Belarussische Grundformel: „Wenn man alle drei Stunden isst, wird man nicht dick“. Tatsächlich ist trotz der üppigen Kost keiner übergewichtig. Auch daran, dass sämtliche Hauptmahlzeiten warm sind, muss ich mich erst gewöhnen. Ab dem zweiten Tag vermisse ich Kaffee, der in der belarussischen Küche überhaupt nicht vorhanden zu sein scheint - oder zumindest nicht in meiner Gastfamilie.
Erstaunt und neidisch bemerke ich die rasend schnellen Internetverbindungen der Schüler und frage mich, wieso es hier schnelleres Internet gibt als in Deutschland, aber keine „richtigen“ Duschen, wie ich sie gewöhnt bin. Hygiene wird in Belarus anders definiert, hier wird sich – mangels ausreichender Wasserversorgung - zweimal die Woche geduscht, doch das Händewaschen vor dem Essen ist eine Art Zeremonie, die man unter keinen Umständen vergessen sollte, es sei denn, man möchte als Ferkel gelten.
Wir besuchen die Gedenkstätte Maly-Trostinez, ein Vernichtungslager am Stadtrand des heutigen Minsk. Anschließend besucht die Gruppe das Museum zum „Großen Vaterländischen Krieg“. Erinnern funktioniert hier anders, politischer, patriotischer, mythischer. Alle damaligen Deutschen sind Faschisten, unter jeder russischen Büste steht „Held der Sowjetunion“. Wenn Deutschland ein Kriegsmuseum baut, stellt es Ferngläser, Trinkflaschen und Helme aus, Belarus stellt ganze Schlachtfelder mit originalen Panzern und Flugzeugen dar. Das ist beeindruckend; die Sicht, die hier vermittelt wird, ist verständlicherweise einseitig. Alle belarussischen Schüler haben sämtliche Opferzahlen, Orte, Schlachten, Daten und Waffendaten auswendig parat.
Beim gemeinsamen Spaziergang in die Stadt überkommt mich Erleichterung, dass ich endlich belarussisches Geld habe. Bei der ersten U-Bahn-Fahrt staune ich über die Preise: 5500 Rubel, etwa 25 Cent. In den nächsten Tagen spendiert immer einer für mehrere eine Runde Tickets.
Im Hinterkopf habe ich stets die Warnung des Auswärtigen Amtes, Europäer unterlägen besonderer behördlicher Beobachtung. Das erfahre ich wenige Tage später selbst, als mich ein Soldat (natürlich ist auch jede U-Bahn-Station militärisch gesichert) mit einem Knurren höflich in einen Hinterraum führt und durchsucht. 2011 gab es in der zentralen U-Bahn-Station in Minsk einen Terroranschlag mit Toten und Verletzten.
Das erste Zeitzeugeninterview am Folgetag berührt alle sehr und hinterlässt einen Eindruck, den ich niemals vergessen werde. Es lehrt mich Bescheidenheit und Respekt vor der Lebensgeschichte anderer und vor allem eines: Man sollte niemals einen Menschen vom ersten Eindruck her beurteilen.
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Am Nachmittag steht der Besuch der Gedenkstätte Chatyn auf dem Programm, die symbolisch für über 5000 im Krieg von der Wehrmacht niedergebrannte Dörfer steht. Auf einer großen Wiese mitten im Nirgendwo stehen für jedes der 25 Häuser eine Nachbildung des Grundrisses und eine große Glocke; alle 30 Sekunden ertönt synchron ihr Schlag. Der Platz ist von Trauer erfüllt, ohne dass jemand ein Schicksal auch nur erzählt hätte. Es ist, als gehe vom Ort selbst diese Trauer aus, die den strömenden Regen zur Nebensache werden lässt. Von den Referenten der Gedenkstätte wird nicht verschwiegen, dass an der Zerstörung des Dorfes neben der Wehrmacht auch ukrainische Nationalisten beteiligt waren.
„Schützt und bewahrt den Frieden!“
Das Wochenende verbringen wir in kleineren Gruppen auf dem Lande, um dort Zeitzeugen und Zeitzeuginnen zu besuchen; meine Gruppe reist in ein Dorf am Rand der mittelgroßen Stadt Orscha. Es ist, als verlasse man den letzten Rest der Zivilisation. Es gibt kein fließendes Wasser. Kleine, gepflegte, aber archaisch anmutende Häuser mit Gemüsegärten reihen sich an die nicht asphaltierte, befestigte Straße, auf der kleine Kinder spielen. Wir betreten das kleine Häuschen; obwohl wir erst am nächsten Tag erwartet werden, werden wir herzlich hereingebeten. Belarussische Gastfreundlichkeit kennt keinen Kalender.
Die Geschichte von Soja Nikolaewna werde ich niemals vergessen. Unter Tränen erzählt sie, wie sie nach Osnabrück verschleppt und nach Kriegsende zurück in der Heimat von der eigenen Stiefmutter aus dem Haus gejagt wurde. Ich sitze ihr gegenüber; mir wird klar, was diese alte Frau in ihrem Leben schon alles hat erleiden müssen. Was sie alles erlebt hat, wie sie gefroren, gehungert, gearbeitet und Todesangst durchlebt hat. Und nach all der Zeit empfängt sie eine Gruppe Deutscher, um ihnen all das zu erzählen, doch niemals setzt sie uns auch nur im Entferntesten in Verbindung mit der deutschen Vergangenheit. Es ist eine herzensgute Frau, deren größte Sorge es ist, ob wir Hunger haben, während sie kaum laufen kann.
Als wir sie am nächsten Morgen noch einmal besuchen, haben ihr Sohn und ihre Enkelin ein wunderbares Festmahl aufgetischt, es wird gemeinsam geredet, gelacht, gegessen und gesungen, bevor sie Gott um seinen Segen für uns bittet. Besonders in Erinnerung bleibt mir ihr Satz: „Schützt und bewahrt den Frieden.“ Beim Abschied wünsche ich mir, sie einmal wieder zu treffen.
Diese Frau repräsentiert für mich die belarussische Gesellschaft, die mit der deutschen kaum vergleichbar ist. Ich bin mit der Erwartung nach Belarus gefahren, die Menschen seien unzufrieden und arm, und hatte ein ganzes Klischeepaket im Gepäck, das sich nach und nach zerstreut. Dachte ich bei der Einreise noch, hier wird der Wodka mit der Babymilch verabreicht, muss ich nun feststellen, dass über alle Altersschichten hinweg Alkohol absolut unbeliebt ist und von wirklich niemandem verzehrt wird, mit dem ich zu tun hatte.
Die belarussische Kultur ist vielmehr auf einem Miteinander aufgebaut als unsere. Man spricht sich in Bus und Zug an, egal, ob man sich kennt oder nicht. Man ist füreinander da, höflich zueinander und auch zu uns. Vor allem die Jugendlichen gehen abends spazieren, statt sich in der Disko oder vor dem Fernseher gehen zu lassen (was auch den sehr kleinen Wohnungen geschuldet ist). Die Menschen wirken glücklicher und lebensfroher, man lebt gemeinsam und nicht nebeneinander her. Es ist eine Mentalität, die ich sehr schätzen gelernt habe und von der wir in Deutschland noch vieles lernen können. Auch zum Reichtum lernt man eine Menge Dinge, wenn man den Westen verlässt. Wider allem Erwarten vermisse ich z. B. einen Fernseher nicht eine Sekunde, denn das Miteinander der Menschen macht solche Gegenstände vollkommen überflüssig
Interessant ist die politische Situation des Landes. Spätestens wenn man auf dem Weg zur Schule von einem Trupp Soldaten mit Waffe auf dem Rücken überholt wird und das Straßenbild von Militärkonvois geprägt ist, ist klar, dass man in einem autoritär geführten Staat lebt, der die Bevölkerung kontrolliert. „Wenn du das meiner Lehrerin erzählst, was ich gerade über den Präsidenten gesagt habe, bekomme ich Schwierigkeiten“, sagt ein Belarusse auf die Frage, ob politische Meinungsäußerung möglich sei. Er repräsentiert damit große Teile einer Jugend, die höchst unzufrieden ist. Unter den Älteren jedoch genießt Präsident Lukaschenko hohes Ansehen. „Unser Land ist nicht reich, aber Lukaschenko hält den Frieden“, sagt unsere Zeitzeugin zum Abschluss.
Das Land ist weniger frei, als es zunächst scheint. Allgegenwärtig ist die Propaganda, die man auch aus Parolen, wie „Wir wissen das Amerika das Böse ist“, der Schüler deutlich spürt. Doch gerade die Jugend ist es, die sich ein freieres, liberaleres und weltoffenes Belarus wünscht und dafür auch eintritt, beispielsweise haben Homosexuelle in der Jugend eine breitere Akzeptanz als in anderen Bevölkerungsschichten.
Am letzten Tag präsentieren wir anderen belarussischen Schülern unsere Auswertung der Zeitzeugeninterwies, bevor es nach einer Woche mit dem Flieger zurückgeht. Am Flughafen fällt es mir schwer, das Land, die Kultur und die Leute hinter mir zu lassen. Hätte mir jemand das am ersten Tag erzählt, hätte ich ihn für verrückt erklärt.
Es war eine Reise mit Höhen und Tiefen, mit Angst und Freundschaft, eine Reise, die mich und meine Sicht auf die Welt verändert hat. Eine Reise, auf der immer jemand für einen da war, um mir zur Seite zu stehen und auf der trotz viel Arbeit und wenig Freizeit ein wundervolles Klima herrschte, das allein die Reise schon lohnenswert gemacht hätte. Das Zeitzeugenprojekt ist das spannendste und bereicherndste Projekt, das unsere Schule zu bieten hat.
Denn Belarus ist eine vollkommen andere, faszinierende Kultur, in der die Menschen mir nicht nur glücklicher, sondern trotz anderer Staatsform auch freier vorkommen. Vielleicht sollten wir uns überlegen, ob all der materielle Reichtum wirklich der Weg zum Glück ist. Vielleicht ist er es nicht.
Dieses Projekt ist nicht nur eine bereichernde Reise für alle Teilnehmer, insbesondere die Schüler, denen die Selbstverständlichkeit ihres Wohlstandes genommen wird, sondern auch für die Beziehung beider Länder zueinander, die noch immer nicht ohne tiefe Furchen ist, auch wenn eine Annäherung und Aussöhnung stattgefunden haben
Dieses Projekt leistet einen kleinen Beitrag zur historischen Aufarbeitung deutscher Schuld und der Geschichte beider Länder. Gerade durch die im kollektiven Gedächtnis verankerte NS-Vergangenheit ist es wichtig, dass sich auch heute noch Deutsche mit dem Leid befassen, das frühere deutsche Generationen unter anderem auch nach Belarus gebracht haben. Denn nur durch historische Aufarbeitung können wir aus der Geschichte lernen: um dafür zu kämpfen, dass so etwas nie wieder passiert.