Minsk im Mai 2016: Als die Gruppe des Zeitzeugenprojekts Ende Mai die Metropole Minsk verlässt und sich auf den Rückweg macht, ist erst die Hälfte der Arbeit erledigt. Die Interviews mit den Zeitzeugen sind geführt, die Geschichten im Kopf. Der zweite Teil wird nun in Osnabrück folgen.
Osnabrück im Oktober 2016: Die Woche beginnt ganz ohne historischen Rahmen mit einem großen, wenn auch kurzen Wiedersehen am Hauptbahnhof. Sofort ist der lockere Umgang und die Vertrautheit der Menschen untereinander wieder da, die die ganze Woche über jede Minute außerhalb der Arbeit prägen werden. Noch niemand weiß, wie groß die Müdigkeit in einigen Tagen schon sein wird, auch wenn es alle ahnen. Denn warum sollte Projektarbeit in Osnabrück weniger aufregend und anstrengend sein als in Minsk?
Am nächsten Morgen, wohlgemerkt einem Samstag, geht es um 11 Uhr los. Der Tag ist reserviert für Feierlichkeiten, Begrüßungen und für die Worte, die jeder denkt, die aber eben gesagt werden müssen. Am Nachmittag beginnt bereits der erste Teil der Spurensuche ohne Zeitzeugen, da sie nicht anreisen konnten oder erst noch anreisen werden, bei der die einzelnen Gruppen versuchen, Menschen und Orte aus den Erzählungen aus Belarus zu finden und einzuordnen. So führt es meine Gruppe auf den Heger Friedhof, der im kalten Oktober noch auf ganz andere Art und Weise unangenehm ist. Wir finden Gräber, die wir einige Tage später auch der angereisten Zeitzeugin Frau Sydoruk zeigen werden; unter vielen prägenden Momenten ein ganz besonderer und emotionaler in der Woche. Des Weiteren besuchen wir die Umgebung des ehemaligen Werksgeländes der Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerke (heute KME), wo sich damals das Lager der Zwangsarbeiterinnen befunden hat.
Sonntag, 9:30 Uhr, Projektbeginn: Wieder einmal einer der vielen Momente, in denen man fast schon bereut, sich für das Projekt beworben zu haben. Wir besuchen dieselben Orte erneut, hinzu kommt das ehemalige Stadtkrankenhaus, heute Bürgeramt. Am Nachmittag beginnt die eigentliche Arbeit, der nie dagewesenen Frust und einige Nervenzusammenbrüche auslösen wird: Die Erarbeitung der Präsentationen über die Geschichten der einzelnen Zeitzeugen, die wir in Minsk besucht haben, die aber nicht anreisen konnten. Vier Stunden später ist unsere Präsentation vollendet, doch technischen Problemen verdanken wir den Status Null; alles ist gelöscht, die Arbeit wird am nächsten Morgen von vorn beginnen. Um 9 Uhr. Für einen Montag gar nicht so übel.
Zwischenzeitig markiert ein offizieller Empfang im Rathaus den spannungstechnisch einzigen Tiefpunkt der Woche, doch was sein muss, muss eben sein. Einige weitere Gruppen haben technische Probleme, doch dank einer guten Mischung aus Motivationsreden der Lehrerinnen und Ehrgeiz der Schüler/innen werden alle Präsentationen inklusive nötiger Übersetzungen ins Russische rechtzeitig fertig.
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Der Dienstag ist für mich persönlich der spannendste und zugleich emotionalste Tag der Woche. Wir besuchen ähnliche Orte wie an den ersten beiden Tagen, doch diesmal ist unsere Zeitzeugin Frau Sydoruk dabei, was jedem einzelnen Ort eine ganz eigene Spannung verleiht. Nur durch ihre Erinnerungen wird ein für mich bedeutungsloser Ort wie eine Stelle auf dem Friedhof zum Zentrum einer Geschichte, die von drei toten Freundinnen erzählt, gestorben durch Erfrierung, Totschlag oder durch Bombenangriffe. Auch aus einem kleinen Büro im Stadthaus wird durch Frau Sydoruks Erinnerung für alle Anwesenden ein Ort der Erinnerung an eine kranke Freundin, die sie dort während ihrer Zwangsarbeiterzeit besucht hat. Wir finden sogar das Zimmer, in welchem sie ihre Freundin das letzte Mal gesehen hat.
Aus einem einfachen Waldweg am Gelände der OKD wird ein täglicher, fünf Kilometer langer Arbeitsweg, ein Ort geprägt von Leid und Trauer. Die Geschichten, die Frau Sydoruk mit diesen Orten verbindet, kennen wir durch ein mit ihr geführtes Interview, doch es ist etwas ganz anderes, an dem Ort zu stehen, an dem sich 70 Jahre zuvor eben diese Ereignisse zugetragen haben.
Am Mittwoch haben wir das erste Mal die Gelegenheit, die Berichte der Zeitzeugen Interessierten vorzustellen. Die Veranstaltung in der Gedenkstätte Augustaschacht ist gut besucht, der Altersschnitt niedriger als gedacht, denn auch viele junge Leute hören interessiert zu.
In den nächsten Tagen folgen die Besuche in Schulen, die meine Gruppe nach Belm und an unsere Schule führt. Es verblüfft mich ganz besonders, wie viele junge Schüler der Zeitzeugin interessiert zuhören und viele Fragen stellen. Es folgt ein fast vollständig freier Samstag, der von den Schülern insbesondere zum Shopping sowie zur Erholung genutzt wird und mit einem gemütlichen Abschlussabend abgeschlossen wird.
Sonntag, 10:45 Uhr, der Tag, der die ganze Woche näher schlich und den keiner wollte: der Tag der Abreise. Nach großem Abschied und vielen Tränen fährt der Bus vom Bahnhof ab, nur 36 Stunden später wird er in Minsk einrollen und für die Belarussen den Abschluss des Projekts markieren, den für uns ein gemütliches Nachtreffen im Arabesque bildet.
Es war ein Projekt, das nicht nur von vielen Emotionen, Aufregungen, Erlebnissen und Eindrücken begleitet wurde, sondern eines, das von uns keiner jemals vergessen wird. Neue Freundschaften sind sowohl in Deutschland als auch nach Belarus entstanden. Ich habe Menschen getroffen, die so viel erlebt haben und einem für das Leben so viel mitgeben konnten, solche, die man gerne wieder treffen möchte. Ich habe Eindrücke gesammelt, die man nur schwer bekommen kann und Berichte gehört, die ich nicht vergessen werde, die mich meine eigene Situation ganz anders bewerten lassen. Es war ein Projekt des Miteinanders, vom ersten Vorbereitungstreffen in Deutschland viele Monate vor dem eigentlichen Projekt bis zum letzten Abend. Jeder von uns hat Momente mitgenommen, die im Gedächtnis bleiben werden, die ihn prägen und das Projekt für ihn zu etwas Besonderem gemacht haben. In meinem Fall ist es ein Zitat von einer Zeitzeugin: „Schützt den Frieden, damit es nicht wieder passiert!“